Der demografische Wandel zeigt erste Spuren: Immer mehr Menschen werden allein alt. 15 Menschen wollen in Neuwied einen anderen Weg gehen. Sie möchten in Gemeinschaft und Autonomie alt werden – und bauen sich mit „La Compostella“ ein neues Zuhause.
Heute haben wir mehr vom Leben. Zumindest, wenn man sich unser Lebensalter anschaut. Denn den Deutschen geht es so gut, dass sie im Durchschnitt 82 Jahre alt werden. Immer bessere medizinische Versorgung und deutlich höhere Ernährungs- und Lebensstandards machen es möglich. Die Kehrseite der Medaille: Die Gesellschaft wird dadurch auch immer älter. Denn die Deutschen bekommen stetig weniger Kinder. Der sogenannte demografische Wandel ist das Schreckgespenst der modernen Zeit. Er bringt Herausforderungen mit sich, die unsere Gesellschaft spürbar verändern.
Eine dieser Herausforderungen ist: Wie werden wir in Zukunft leben? Was ist uns im Alter wichtig? Wie werden wir wohnen? Während noch vor 50 Jahren der Generationenvertrag unausgesprochen regelte, dass sich die Jungen um die Alten kümmern, die Oma mit dem Enkel unter einem Dach wohnt, müssen heute neue Wohnformen her. Ein Entwurf, wie das aussehen könnte, entsteht gerade in Neuwied am Rhein. Dort arbeiten aktuell 15 Menschen – so bunt gemischt wie das Leben selbst – daran, eine Alternative zu ihrem jetzigen Ausblick aufs Alter zu suchen. Und vor allem dabei eines finden wollen: Gemeinschaft.
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„Da müssen wir unbedingt mal drüber reden.“ Dieser Satz fällt immer wieder, wenn Ludger Kamp mit seiner Frau Sabine und vier weiteren Paaren in einer launigen Doppelkopfrunde einfach mal rumspinnt, wie es der 69-Jährige nennt. „Mir war vor allem wichtig, nicht von unseren Kindern abhängig zu sein. Ich stellte mir vor, dass sie uns besuchen kommen, um mit uns spazieren zu gehen, mit uns zu reden, aber nicht, um für uns einkaufen zu gehen“, findet Sabine Kamp, 60 Jahre alt und Physiotherapeutin.
Unabhängigkeit und Selbstbestimmung: Das sind auch die stärksten Motive von Elisabeth und Joachim Adler, dem zweiten Paar der Doppelkopftruppe. Die Konrektorin einer Förderschule hat ihre Mutter im betreuten Wohnen untergebracht, „das fiel mir schon sehr schwer“, erinnert sie sich heute. Deshalb möchte sie sich mit ihrem Mann selbst eine Wohnform fürs Alter aussuchen – und das rechtzeitig. Elisabeth Adler ist selbst als Einzelkind aufgewachsen, umso wichtiger waren Freunde für sie. Darum träumt sie davon, auch unter Freunden alt zu werden. Interessen auszutauschen, gemeinsam Neues zu lernen. Das wäre was, findet sie.
Ein Altwerden in der Gemeinschaft wünschen sich auch Wolfgang Rahn und seine Frau Anne Peters-Rahn. Der Physiker (59) und die Pfarrerin und Referentin für Seelsorge (58) stehen beruflich noch voll im Saft. Doch seit die drei Kinder ausgezogen sind, das Haus leer steht und der Garten nur Arbeit statt Freude macht, gewinnt der Gedanke eines gemeinschaftlichen Wohnens an Attraktivität. Die Gespräche drehen sich ums gemeinsame Altwerden, ein Leben in der Gruppe.
Das ist mittlerweile 13 Jahre her. Sechs Jahre soll es dauern, bis der Rumspinnerei konkrete Taten folgen. Denn der Gedanke an ein gemeinsames Wohnprojekt lässt die Freunde nicht los. „Irgendwann wollten wir nicht mehr nur drüber reden, sondern es anpacken“, erinnert sich Ludger Kamp. Die Gruppe schrumpft auf acht Köpfe, bleibt jedoch an ihrem Traum dran, informiert sich Mitte 2011 auf einem Wohnprojektetag, was es bedeutet, so ein Vorhaben auf Eigentümerbasis umzusetzen. Dann geht es Schlag auf Schlag. „Wir erkundigten uns bei der Stadt Neuwied nach freien Grundstücken, kauften 2013 eines beim Bauamt und schrieben einen Wettbewerb für Architekten aus“, berichtet Kamp von der turbulenten Anfangszeit. Die ersten Schritte sind getan, eine Rechtsform im März 2013 gefunden, die ersten Investitionen finanziert. Als Grundstück dient ein altes Firmengelände, auf dem 2015 der Abriss der alten Gebäude vonstattengeht. Für Zweifel bleibt kaum Raum. „Mir war klar: Die Idee ist gut, und wir machen das“, sagt Wolfgang Rahn heute.
Im gemeinsamen Frankreich-Urlaub, bei einem Spaziergang durch die schmalen mediterranen Gässchen, fällt der Blick der Freunde auf jenen Schriftzug, der ihrem Vorhaben einen Namen gibt: La Compostèle, eine Wohnanlage für Senioren, steht Pate für das, was in der Zukunft La Compostella heißen soll. Nicht ganz unabsichtlich steckt das Wort Kompost drin – ein ironisches Augenzwinkern der Eigentümer aufs Alter.
Zurück zu Hause, folgt ein wahrer Organisationsmarathon, denn schnell steht fest: Kamps, Rahns und Adlers wollen mehr Parteien dazuholen. Das 5500 Quadratmeter große Grundstück ist zu weitläufig für drei Paare. Der Neuwieder Architekt Stefan Schäfer, der den Wettbewerb für sich entscheiden konnte, plant insgesamt 15 Wohneinheiten – vom Einfamilienhaus bis zum großen Hauptgebäude mit mehreren Eigentumswohnungen und Gemeinschaftsräumen. Die Eigentümer legen dabei Wert auf nachhaltiges und ökologisches Bauen – das gehört zur Philosophie des Projektes. Die Gemeinschaft beschließt, einen Finanzberater von außen dazuzuholen. Dieser soll die Finanzprüfung von Bewerbern übernehmen, allein schon aus Datenschutzgründen. Und Interessenten gibt es viele. Ludger Kamp, inzwischen Bevollmächtigter und das organisatorische Herz des Vorhabens, führt Dutzende Erstgespräche, heute zählt er 150 Begegnungen mit Menschen, die Teil von La Compostella werden wollten.
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„Ohne Gemeinschaft bin ich ein unglücklicher Mensch“, begründet Annelie Wieland die Entscheidung für La Compostella. Sie und ihr Mann Franz wollten sich bereits in der Vergangenheit einem Gemeinschaftswohnprojekt anschließen, jedoch gab es Schwierigkeiten mit der Organisation und dem Investor. „Das sieht hier ganz anders aus. Hier sind wir alle Eigentümer, wir bezahlen das alles selbst. Hier muss keiner dran verdienen“, erklärt die 69-Jährige, warum das Projekt in Neuwied für sie perfekt passt. Bereits vor drei Jahren verkauft das Ehepaar sein großes Haus samt 2000 Quadratmeter Garten in Trier, um in einer Mietwohnung in Neuwied dem Projekt näher zu sein.
Denn La Compostella ist ein wahrer Zeitfresser. Anders als bei bezugsfertigen Wohnformen müssen hier noch weit vor der Bauphase viele Hundert Entscheidungen getroffen werden. Und statt nur mit einem Ehepartner muss man sich hier mit einer ganzen Gruppe einigen, Rücksicht und intensiver Meinungsaustausch gehören dazu. Einmal im Monat trifft sich das Plenum, bei Bedarf – zum Beispiel in der Bauphase – auch häufiger. Mehrere Hundert Arbeitsstunden steckt jeder Teilnehmer in das Vorhaben. Die Wielands sind neben den drei Kernfamilien schnell ein elementarer Teil der Gruppe. Annelie Wieland übernimmt rasch die Führung der Öffentlichkeitsarbeit, informiert die Presse über das millionenschwere Projekt, hält Vorträge zum Thema. Denn das Interesse an La Compostella ist riesig. Immer mehr Menschen suchen nach alternativen Wohnformen. Der Markt boomt.
Das merkt auch Thomas Pfundstein von der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz. Der Verein organisiert unter anderem Wohnprojektetage im Land, die sich zunehmender Besucherzahlen erfreuen, berät zum generationsübergreifenden Wohnen und ist Ansprechpartner sowohl für Einzelpersonen als auch für Initiativen und Bauunternehmer. Pfundstein sieht bei seiner Klientel deutlich eine Tendenz zu 50 plus. „Die Menschen machen sich immer häufiger Gedanken, welche Wohnform für sie die richtige ist“, weiß er.
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Zu dieser Generation gehören auch Mechthild und Rainer Neuendorff. Sie stoßen 2015 zum Projekt dazu. Mechthild Neuendorff leitet selbst ein Pflegeheim. Sie findet es wichtig, dass Wohnformen wie La Compostella nicht mit Pflegeheimen konkurrieren. „Es gibt nun mal verschiedene Phasen im Leben. Auch wir werden einmal Pflege brauchen. Und dafür habe ich mir in meiner Einrichtung schon ein Zimmer reserviert“, sagt sie lachend. Und doch möchten die beiden die Jahre bis dahin gemeinsam mit Gleichgesinnten gestalten und an La Compostella teilhaben.
Besucht man die Neuendorffs in ihrem liebevoll sanierten Bauernhaus im Neuwieder Stadtteil Altwied, sitzt in gemütlichen Rattansesseln in der warmen Stube, den Blick ins Grüne gerichtet, stellt sich jedoch schon die Frage: Warum all das aufgeben? „So sehr wir unser altes Haus lieben – und noch kommen wir hier sehr gut zurecht –, alt werden können wir hier nicht“, räumt die 55-Jährige ein. Hübsch und gemütlich ist das alte Fachwerk, klar, aber Altwied sei schattig, wenig Sonne dringe ins Tal, und schon das Kopfsteinpflaster auf dem Gelände sowie die Bauweise des Gebäudes sind alles andere als barrierefrei.
28 Jahre haben die Neuendorffs mit zwei weiteren Familien hier in engem Austausch gewohnt, haben gemeinschaftlich Kinder großgezogen. „Natürlich wird es schwierig sein, das Haus zurückzulassen. Aber ich denke, dass im Leben Trauer und Freude nebeneinanderstehen dürfen. Deshalb schauen wir auch froh und gespannt in die Zukunft“, blickt Rainer Neuendorff nach vorn. Der 65-Jährige arbeitet zurzeit noch als Seelsorger und Supervisor, doch sein Ruhestand rückt näher. Diesen möchte er aktiv gestalten. La Compostella soll geprägt sein von einer gesunden Mischung von Nähe und Distanz. „Sei es organisatorische Hilfe oder aber auch emotionaler Austausch, das Projekt lebt von der Balance zwischen Individuum und Gruppe“, ist er überzeugt. Denn so verschieden wie die Menschen selbst sind auch ihre Bedürfnisse. Die einen suchen enge Beziehungen und neue Freundschaften, andere wie Rainer Neuendorff schauen pragmatisch auf das Projekt. „Ich bin vielleicht so etwas wie die Opposition gegen die vier Kernfamilien in der Gruppe – aber auf faire Weise. Ich denke, dass eine Gruppe wie unsere auch so etwas braucht“, sagt der 65-Jährige.
Dass es auch mal Konflikte gibt, sich die Parteien aneinander reiben und diskutieren, sehen alle in der Gruppe als selbstverständlich an. Und doch haben sie sich auch da Hilfe geholt. Eine Supervisorin schaut regelmäßig im Plenum vorbei, bespricht mit der Gruppe Probleme oder Hürden, lässt auch mal einen Knoten platzen, damit es weitergeht. „Die Supervisorin erkennt gruppendynamische Prozesse“, erklärt Achim Adler.
Eine besonders schwere Hürde wartete Weihnachten 2016 auf die Gemeinschaft. Der Bau stockte, und dann stieg auch noch ein Ehepaar, das von Anfang an dabei war, aus. „Das war schlimm für uns. Für mich hat es sich wie eine Katharsis angefühlt. Wir verloren nicht nur Projektmitglieder, sondern auch enge Freunde“, erinnert sich Elisabeth Adler. Manche fragten sich, ob sie überhaupt weitermachen sollen. Auch Anne Peters-Rahn gingen die Kräfte aus: „Ich weiß noch, wie ich zu meinem Mann sagte: ,Wenn jetzt nicht Stein auf Stein kommt, dann kann ich nicht mehr’“, erzählt sie. Doch die Supervisorin wusste Rat, baute die Gruppe wieder auf, zeigte Perspektiven auf, sodass alle fürs neue Jahr neuen Mut schöpften. Joachim Adler erklärt: „Es ist ja so: Bis die Häuser stehen, haben wir hier nur uns. Nur wir hier können aktuell einander Motivation sein. Da ist jemand, der von außen draufschaut und für den Gruppenfrieden sorgt, extrem wichtig.“ Als Psychologe weiß er, dass jemand, der tief drinsitzt, nicht von außen draufschauen kann. So sei eine Sicht von außen gerade für die Konfliktbewältigung von enormer Bedeutung. Schließlich gilt es, effizient Entscheidungen zu treffen und sich über Generationen hinweg auf ein gemeinsames Ziel zuzubewegen.
Der Altersbogen in La Compostella reicht aktuell von 55 bis 83 Jahre. Und das witzigerweise innerhalb einer Familie. Denn die Neuendorffs ziehen nicht allein aufs Gelände. Auch Mechthilds Mutter Loni Müller, schon seit geraumer Zeit allein wohnend, wagt mit 83 Jahren einen Neuanfang und bezieht eine eigene Wohnung. Sie ist die Älteste in der Gruppe, fühlt sich „getragen im Alter“, wie sie sagt, und gilt mit ihrer fröhlichen, jungen Art und ihrer Agilität vielen dort als Vorbild.
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Erich Oetz, 74, und seine Lebensgefährtin Marita Hoffmann-Brand, 57, bewundern Loni Müllers Schritt raus aus dem Alleinsein im Alter hinein in die Arme der Gemeinschaft. Sie hörten von den Neuendorffs vom Projekt und waren direkt begeistert. „Meine Schwester lebt allein“, berichtet Marita Hoffmann-Brand, „das ist nicht mein Konzept. Das mag ich einfach nicht. Wir sind gern in Gemeinschaft, deshalb haben wir uns 2016 angeschlossen.“ Obwohl am Anfang auch ein paar skeptische Gedanken aufkamen. Der erste Gedanke der Psychologin war: „Erich ist zu alt dafür, ich bin zu jung dafür.“
Dabei ist La Compostella im Ursprung als Mehrgenerationenprojekt angedacht. Eher der Zufall hat dafür gesorgt, dass sich bisher Menschen im höheren Alter zusammengefunden haben. „Ich hätte auch gern junge Familien in unserer Mitte gesehen“, räumt Anne Peters-Rahn ein, „doch jetzt ist es auch prima so. Wir sind offen für alles.“
Dem kann Erich Oetz nur zustimmen. Oetz, heute Krankenpfleger im Ruhestand, ist ein wahrer Freigeist, voller Neugier aufs Leben, wie er sagt: „Das Alter kann ich nicht beeinflussen, doch die Art, wie ich damit umgehe.“ Deshalb galt für ihn und seine Lebensgefährtin Marita nach etwas Bedenkzeit: „Wir springen. Wir wissen nicht, wohin und was uns das bringt, aber wir springen.“
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Mit ihnen springt auch Marie-Luise Kreth. Die 67-jährige Ärztin in Rente lebt bisher allein. Und doch hat sie sich der Gemeinschaft angeschlossen, von der sie von ihrer Freundin Marita erfahren hat. In ihrem Umfeld beobachtet sie, wie Menschen einsam alt werden. In einer Phase schwerer Krankheit erlebte sie am eigenen Leib, was es heißt, hilflos zu sein. Deshalb hat sie La Compostella direkt fasziniert.
Ähnlich ging es auch der Sozialpädagogin Gisela Heimen. Bereits seit 2010 hegte sie die Idee, an einem Wohnprojekt teilzuhaben, 2016 stieß sie wie Marie-Luise Kreth zu La Compostella dazu. Dass die beiden Singles sind, stört hier keinen. Im Gegenteil, es durchmische die Gemeinschaft, finden alle. Heimen brannte schnell für das Projekt: „Besonders begeistert hat mich die Partizipation eines jeden Einzelnen. Mit welcher Kompetenz die Aufgaben erledigt werden und mit wie viel Teamarbeit das Projekt verwirklicht wird, das finde ich einfach großartig“, erzählt sie.
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Genau das scheint das Wesen von La Compostella zu sein. Das Projekt ist bewusst als Wohneigentum angelegt, das jede Partei für sich finanziert. Im Fall eines Auszugs oder Sterbefalls behält sich die Gruppe das Vorkaufsrecht vor. Da La Compostella ohne Investor auskommt, übernimmt die Gruppe die Organisation selbst. Aufgeteilt in Schwerpunktgruppen wie zum Beispiel Bau, Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit und Verträge trägt jeder Compostellaner seinen Teil zum Gelingen bei. Die Schwerpunktgruppen erarbeiten Vorschläge, die anschließend im Plenum entschieden werden. Dabei hat jeder eine gleichwertige Stimme. So nähert sich die Gruppe in Trippelschritten ihrem Ziel, wie Joachim Adler schmunzelnd sagt.
Seit dem ersten Drüberreden sind 13 Jahre vergangen. Heute stehen die ersten Häuser, die Dächer sind drauf, der Bau geht voran. Wahrscheinlich dürfen die Wielands als Erste im Sommer endlich einziehen. Sie haben wie viele andere in der Gruppe viel aufgegeben, um neu anzufangen. Sie tauschen eine sichere Zukunft gegen einen Traum, den sie mit Gleichgesinnten leben wollen: ein Altwerden in Gemeinschaft und Autonomie. Mit dieser Idee sind die Compostellaner Pioniere in einer Zeit, in der alternative Wohnformen erst noch entdeckt werden, die Gesellschaft umdenken muss. Sie machen es einfach – und suchen noch Mitstreiter.
Marta Fröhlich